Gewalt zur Zeit

my best friend's a butcher, he has sixteen knives
he carries them all over the town at least he tries
(Interpol – Roland)

kollektiv spazibas Beitrag in der vorvorigen Ausgabe der AlphaPress bemühte sich einige Positionen aus der akademischen Perspektive zum Phänomen der exzessiven Gewalt im Kapitalismus unserer Zeit zusammenzufassen. Das große Wort vom zivilen Ungehorsam lag dabei im Text im Schlummer, wurde aber nicht so genannt; hier bemüht sich das kollektiv anhand von allerhand Kulturgedöns um eine Veranschaulichung. Und fragt nach Kommentaren auf http://spaziba.twoday.net
kollektiv spaziba bemüht sich in dieser Fortsetzung zu Eine mögliche Welt ist anders die dort angerissenen Positionen linken Denkens um Slavoj Zizek, Mark Seltzer und Giorgio Agamben zu vertiefen. Alle drei dargestellten Positionen, waren sich doch dahingehend einig, dass es nicht möglich ist, die Rolle der Medien zu unterschätzen, wenn man sich mit Gewalt befasst. Außerdem muss klar sein, welches Verständnis kollektiv spaziba von Gewalt im Rahmen dieser Serie hat. Das wird nicht ganz einfach, denn kollektiv spaziba vertritt die These, dass die Gewalt, von der das Kollektiv handeln will, größer ist als Sprache – also lässt sich davon auch nicht einfach so schreiben. Vereinfachend lässt sich sagen, dass es um Momente von Gewalt geht, die sich nur mittelbar aus Machtmechanismen heraus begreifen lassen und die – aus Angst sie doch logisch zu begreifen – viel zu vorschnell als krank oder irre abgetan werden. Doch sehen Sie selbst.

Gewalt zur Zeit geht nicht ohne die mediale Vermittlung – sicherlich geschieht Gewalt auch dort, wo nicht hinterher davon gesprochen wird. Und geschieht dort auch weiter und in Zukunft. Aber sie wird nicht zum Ereignis. Davon kann man dann sprechen oder nicht, oder man ist zum Sprechen gezwungen, auch wenn sich nichts Vernünftiges sagen lässt. Der Begriff des Ereignisses spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle: auf einer Tagung in Montréal definierte der französische Philosoph Jacques Derrida das Ereignis als völlig unvorhersehbar und überraschend. Die Frage der Tagung war gewesen, ob es möglich sei, von Ereignissen zu sprechen, so dass Derrida, seine Definition zu Ende denkend, zu dem Ergebnis kam, dass es nicht möglich war von Ereignissen zu sprechen. Wenn sie denn richtige Ereignis sind.
Kommse also vonner Kirmes und kannst am Sonntag Mittag allen erklären, was da so war, so war dein Ausflug scheints kein großes Ereignis. Hast du dich aber auf der Kirmes derart hemmungslos, verschwenderisch und konsequent verausgabt, so dass weder Erinnerungs- noch Sprachvermögen dich in die Lage versetzen, davon zu berichten, so wird das schon eher zum Ereignis.
Im Phänomen der Gewalt wie kollektiv spaziba sie zu begreifen versucht bedeutet dies nun, dass weder Flugzeuge, die in Türme rasen – oder Reaktionen darauf – noch der Einsatz berittener Polizei auf politischen Demonstrationen Ereignisse sind. Davon lässt sich meistens ganz gut sprechen, so man nicht betroffen ist. Abgesehen davon folgen derartige Momente der Gewalt einer inneren Logik, das Potential ist da, verstärkt sich und wird abgeschöpft.

Die Momente der Gewalt für die sich kollektiv spaziba interessieren jedoch, machen ein Sprechen darüber unmöglich. Oder man spricht um des Sprechens willen und enthüllt nur die eigene Hilflosigkeit – wie die Protagonisten in Thomas Glavinics Der Kameramörder.
Thomas Glavinic lässt in seinem Roman-Thriller quasi ständig das Fernsehen laufen. Die Ereignisse von denen der Text vielleicht in aller Kürze: über das Osterwochende besucht der Erzähler mit seiner Frau ein befreundetes Ehepaar auf dem Land. Der ursprüngliche Plan, ein erholsames langes Wochenende zu verbringen scheitert jedoch als die Gruppe im Fernsehen durch Zufall an dem brutalen Mord zweier Jungen in der unmittelbaren Nähe hört. Unfassbar wird der Mord, weil der Mörder seine Tat (er zwingt die Jungen auf Bäume zu steigen und sich in den Tod zu stürzen) mit einer Videokamera festgehalten hat und dieses Video zur Ausstrahlung kommt; ein snuff quasi.
Der Roman und seine neutrale, kühle Handlung sind sicherlich stark, kollektiv spaziba findet aber vielmehr die Facetten der Reaktionen, die der Text beschreibt, umhauend. Reaktionen, die von Faszination, Regression über Zynismus bis zu Aussagen des völligen Scheiterns von Seiten der Instanzen aus Rechtsstaatlichkeit, Psychologie und Sozialforschung handeln. Und das sind keine Reaktionen auf das Ereignis als solches, sondern Reaktionen auf das televisuelle Ereignis.
So entspringt es nur der logischen Konsequenz, dass sich der Fokus des Textes verschiebt. Handelt er früh von dem schrecklichen Mord an zwei Kindern und der Suche nach dem Täter, so tritt dieses Geschehen später, zu Gunsten der medialen Aufbereitung der Ereignisse in den Hintergrund. Die Ausstrahlung eines Videobandes(der Text ist älter als MiniDV), das die Morde festhält und die Reaktionen darauf: Demonstrationen gegen die Ausstrahlung, Aufrufe von Politikern und religiösem Führungspersonal, Androhung strafrechtlicher Konsequenzen. Das Fernsehen kann nun vom Fernsehen berichten. Und genau darum muss es gehen: nicht, dass Gewalt passiert ist der Skandal, sondern vielmehr wie darüber – scheinbar – berichtet wird.

Mark Danielewskis House of Leaves liegt ein ähnliches media a priori zu Grunde. Der Text ist das Referenzwerk der New American Gothic und unbedingt im englischen Original zu lesen. Aus mehreren erzählenden Instanzen arrangiert, handelt er vor allem von dem Tätowierer John Truant, der, als er sich eine neue Wohnung ansehen will, die Unterlagen eines zweiten maßgeblichen Erzählers findet. Dabei handelt es sich um einen quasi wissenschaftlichen Text über die fiktive Videodokumentation The Navidson Report. Der Dokumentarfilmer Will Navidson hat in diesem Video die unglaublichen und schrecklichen Ereignisse in seinem Haus festgehalten: das Haus verändert sich im Inneren, obwohl es von Außen gleich zu bleiben scheint. Der Dokumentarfilmer will diesem Rätsel natürlich auf den Grund gehen und stellt eine Expedition zur Erforschung des Hauses zusammen.
Die fiktionale Welt, die House of Leaves bereits auf den ersten Seiten entwirft, beansprucht durch zahlreiche mediale Referenzpunkte eine völlige Authentizität. So wird verwiesen auf die Äußerungen Dritter zum Navidson Report und im Anhang finden sich Arbeiten von Kunststudenten, die in der Dokumentation ihre Inspiration fanden. Bedeutsamer als die Referenz auf die Beschäftigung Anderer mit dem Film bleibt die immer wieder geäußerte Behauptung, der Navidson Report habe nur durch die Hand eines geschulten Dokumentarfilmers geleistet werden können. Kein herkömmlicher Hobbyvideofilmer wäre dazu in der Lage gewesen. House of Leaves betont also vor allem, wie wichtig es ist, Techniken zur Beherrschung von Medien zu besitzen. Andernfalls wird man selbst von Medien beherrscht.

Zurück zum Anfang: Was soll das ganze Sprechen vom Ereignis? Das Ereignis in unserem Sinne verweist nicht auf: „Ey Mandy, ick wa jestan wija hacke. Aba so risch“ – sagt Sandy. Wobei auch solche Fälle – um beim Kirmes-Beispiel zu bleiben – offensichtlich größer als Sprache sind; jedoch aus Gründen, die eher im Sprecher als im Ereignis zu vermuten sind. Eher sollte es um Ereignisse gehen wie Amstetten, Kinderleichen in Blumenkübeln, Morde und Selbstmorde jenseits der Logik. Darum handelt es hier auch nicht von Krieg oder modernen Formen der Sklaverei, denn diese folgen meistens einem ausnehmend simplen und Komplexitäts reduzierenden Gedanken. Auch wenn es Wahnsinn ist, so hat es doch Methode. Und: Der Rest ist Schweigen – das wusste schon ein bekannter dänischer Prinz. Kollektiv spaziba wird sich in den nächsten Teilen dieser Serie weiter dem Alltag in einer Welt aus Gewalt widmen und hofft vorerst zu spannender Lektüre verholfen zu haben.


Lesen:
Thomas Glavinic. Der Kameramörder.
Mark Z. Danielewski. House of Leaves.
Peter Sloterdijk. Der starke Grund zusammen zu sein.
Jacques Derrida. Signatur. Ereignis. Kontext.

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